Dienstag, Februar 14, 2023

Hellmut Seiler, „Marin“ & Co.



Neue Literatur, 3/1985 – Erläuterungen zu „Wie’s weitergehen soll. Kurze Prosa“ unter besonderer Berücksichtigung der „notă informativă“ des IM „Marin“ 

Die Zusammenstellung des Helmmut (sic!) Seiler enthält angeblich 11 Texte „voller Ironie und Anspielungen auf die hiesige Gegenwart“ (rum. „pline de ironie și aluzii la prezentul autohton“), tatsächlich erschienen sind fünf (5), darunter das Gedicht „Auskunft II. Für Gerhardt Csejka“ sowie die vier Prosastücke „Gemeinsamkeiten,Soirée“, „Nichts als: Ein Traum“ und „Der König von Theben“.

Im Kurzbericht von „Marin“ an den Verbindungsoffizier bewertet und kommentiert werden allerdings der – nicht veröffentlichte – Aphorismus „Fortschritt“ („Gebaut wird ein Unfall/aufgebaut ein Loch//und was fortschreitet/ist die Schwindsucht“), der obengenannte Prosatext „Gemeinsamkeiten“ sowie die – ebenfalls nicht publizierten – „Beim Frisör“, „Eine Eingewöhnung (Umdarmung)“ und „Zehn neue Proportionen“.

„Marin“ geht also ausführlich auf Texte ein, die nicht veröffentlicht worden sind, wobei er – in derselben „notă informativă“ – behauptet, die Redakteure Anemone Latzina und Gerhardt Csejka hätten sie an der Redaktionsleitung vorbei zur Veröffentlichung gebracht.

Zwei weitere Prosastücke (von den damals vom Autor an die Redaktion eingesandten), nämlich „Happy beginning“ und „Der Redner“, bleiben im Bericht unerwähnt.     

Hellmut Seiler

 


[3 martie 1985. În mai multe note, redactate de lt.-col. Costică Tănase  după o întrevedere cu colaboratorul neoficial „Marin”, ofiţerul de Securitate sintetizează informaţiile legate de cîteva texte literare, destinate revistei germane bucureştene, Neue Literatur. În nota dactilografiată, corectată şi adnotată de mînă de către Tănase, reprodusă mai jos, datată 3 martie 1986, textele lui Helmuth Frauendorfer şi Hellmut Seiler sînt suspectate de a fi în contradicţie cu linia oficială a regimului, exprimînd pesimism, critici la adresa cenzurii sau a politicii demografice, „ironii şi aluzii la prezentul autohton”. Informaţiile provin din interiorul redacţiei, ceea ce rezultă limpede şi din trimiterile la textele lui Seiler care nu au fost publicate în nr. 3/1986 al revistei şi pe care le reproducem mai jos, alături de cele cinci apărute în revista Uniunii Scriitorilor. În anii 1980, Tănase se ocupa de minoritatea germană, în general, şi de intelectualii minorităţii, în special, preluînd o parte a sarcinilor pe care le avea colonelul Gheorghe Preoteasa, numit în 1985 şeful Securităţii din judeţul Mehedinţi, funcţie ocupată pînă-n 1989. Într-o adnotare olografă, Năstase reţine ca sarcină generală faptul că poliţia politică va „lua măsuri de prevenire a apariţiei în cadrul revistei a textelor necorespunzătoare”. Într-o altă notă, culeasă de la aceeaşi sursă, datată tot 3 martie 1986, e incriminată o poezie a lui Franz Hodjak, apărută „în nr. 10/85 al revistei NL”. „Din partea redacţiei mai multă vigilenţă, atunci cînd se publică versuri unor poeţi ca Hodjak”, se concluzionează în finalul notei amintită. În partea a doua a notei sînt sintetizate zvonurile legate de sinuciderea lui Rolf Bossert. Tot acolo se mai propune ca „prin tov. lt.-col. Victor Achim”, să se ia măsuri ca Gerhardt Csejka „să nu fie ales ca membru al colegiului de redacţie” – f. 93. Într-o notă dactilografiată, datată 4 februarie 1985, bazată tot pe relatările lui „Marin”, Tănase reţine interpretările legate de textele lui Wolfgang Koch, apărute în „nr 2/1985 al revistei NL”, reliefînd, între altele, „atmosfera sumbră, depresivă” dintr-o povestire, în care „oamenii ce apar sînt nişte rataţi şi fără speranţe”. În final, ofiţerul notează: „Aspectele din material relevă preocuparea lui CSEJKA G. şi LATZINA A. de a promova în paginile revistei texte cu conţinut tendenţios, interpretativ. Prin serviciul 5 vom lua măsuri de prevenire a apariţiei lor în revistă. Nota se va exploata în DUI ‚Carol’” – ff. 96-97. „Carol” era numele codificat al lui Gerhardt Csejka, lucrat într-un Dosar de urmărire informativă - D.U.I., deschis pe 2 mai 1974. Ofiţerul care răspundea la început de acest D.U.I. a fost Gheorghe Preoteasa – în 1974 încă maior.]  



ACNSAS, I 157085, vol. 1, ff. 94-95






Neue Literatur, 36. Jg., Heft 3, März 1985

Die veröffentlichten Texte 



  1. auskunft II
  2. Soirée
  3. Gemeinsamkeiten 
  4. Nichts als: Ein Traum
  5. Der König von Theben


Die unveröffentlichten Texte

  1. Der Redner
  2. Beim Frisör
  3. Happy-End. (Kurzes Drehbuch nach einer Künstlerbiografie)
  4. Neue Proportionen
  5. Die Umdarmung (Geschichte einer raschen Eingewöhnung)


Die veröffentlichten Texte 

auskunft II 

für Gerhardt Csejka

ich habe ganz von mir abgesehn

kaum redet einer noch
hebt schon das wehgeschrei an
ich kann nicht klagen schlag
worte schlagen mich nieder
sausenden schlagbäumen gleich
nieder die bücher kehren mir
den rücken zu das radio
verschweigt das fortschreiten
der allgemeinen schwindsucht
& gebläht hängt der mond
im gestänge der masten lang
schlägt mein schatten hin
ich stecke hinter keiner
der letzteren erklärungen

ich bin mir gänzlich
abhanden gekommen      

Soirée

Gleich beim Eingang schon baumelten sanft in einem betörenden Luftzug, der unsere Nasenflügel in Wallung brachte, die Flügel der ersten messingbeschlagenen Doppeltür. Daneben stand gespenstisch der tadellos livrierte Majordomus und empfing uns, leise die schmeichelhaftesten Anreden flötend, unter ungezählten Bücklingen.
Das tief ausgeschnittene Garderobenfräulein zupfte uns die Bügelfalten der maßgeschneiderten Smokings zurecht und setzte einem jeden zwei junge knitterfreie Orchideen ins Knopfloch. Kaum war diese Prozedur beendet, stürzte der Empfangschef mit erhobenen Armen auf uns zu und faßte uns auf die jovialste Weise unter. Derart hineingeleitet, machten wir uns unverzüglich ans Händeschütteln, Andiebrustdrücken, Wangenabküssen und Nasenaneinanderreiben. Nach den kurzen, doch herzlichen Worten der Begrüßung ging der überlange Gastgeber unter gewählten Ausdrücken schnurstracks in die Knie. Elektrische Fledermäuse klirrten an die schweren Lüster und die wandelnden Armleuchter...
Kurz nachdem Arthur, erkenntnistheoretischer Esoteriker und Kulturpessimist, dem erstbesten Pianisten der Spitzenklasse eins übergezogen hatte, flippten auf ein geheimes Zeichen die dreizehn extra herbeibestellten außerordentlich rosigen Flittchen aus. Umschwärmten uns einfach unerhört. Unser geistesgeschichtlicher Gewürzkundler Gustav ließ sich aber auch nicht lumpen und haute mit dem Kommerzienrat Ypsilon, einem Gesinnungslumpen, dem das ganze spanisch vorkam,  die anliegende spanische Wand, die den blumig austapezierten Empfangsraum vom roten Intimkabinett abtrennte, glatt durch.
Emil, der sich eines langjährigen Rufs als selbstloser Mäzen und Künstlersammler erfreute, machte diesen mit einem Schlag zunichte. Schniefte daraufhin und rang nach Atem, zumal Blöff, ein echter Kunstfreund, ihm gerade das linke Ohr mit einer Tortenzange abzuquetschen suchte...
Die befrackten Ober hüllten sich in Duftwolken „Ciel de Paris“ und fläzten sich auf den Plüschsesseln, zwischen denen der maßgebliche Prokurist des Landstrichs bäuchlings nach hingeworfenen Münzen kroch; unterdessen purzelten ihm vergoldete Zahnstocher aus dem wie über Wasser und hochgehaltenen Bürgerlichen Gesetzbuch, aus dem die Paragraphen zur Maßregelung der Sittenstrolche flatterten samt jenen zur Normung des gesunden Menschenverstands.
„Achtung!“ jauchzte die angeschmierte Witwe mehrerer Produktionsberater, „ich dreh ab und pack aus!“ Lange noch würgten sie im fahlen Kerzenlicht an ihr herum.
So gegen Mitternacht jedoch warfen wir uns ausnahmslos all diese schiefhängenden rückwärtsgewandten Wunschbilder an den Kopf.

Gemeinsamkeiten

Herr A. torkelte schlaftrunken auf die Menschenansammlung zu. Sein letzter Traum machte ihm noch zu schaffen: da war er neben einem Oleanderstrauch gelegen und ein Milizionär war davor ständig auf und ab gegangen und hatte anzüglich seinen Gummiknüppel geschwungen. Er, A. , hatte nicht aufstehen können. Jetzt stand er da.
Ihm winkte schon von weitem C. zu, ein vorzeitig gealterter schmächtiger Junge von spärlichem Haarwuchs, seines Zeichens Nägelbeißer. Dem hatte gerade geträumt, er läge auf einem weichen Sofa mit dem Kopf zwischen den Schenkeln einer lange verfolgten Blondine von schlankem Wuchs und mit Schlangenblick. Durch den geblümt geträumten Morgenrock hauchte ihn jetzt noch ihre Wärme an.
Neben ihm war E. , Buchhalter mit einer Neigung zu Depressionen, kurz vorher noch von einem kalbsgroßen Schäferhund angesprungen worden, der ihm den Namen seines Chefs mit herabhängenden Lefzen ins Ohr gejault hatte. Weitere gut zwei Dutzend Köter hatten ihn dabei umstanden; sie waren weitaus kleiner, alle angekettet gewesen und hatten keinen Laut von sich gegeben.
Nach dem nichtendenwollenden Fenstersturz war Fräulein P. froh, heil davongekommen worden zu sein.
M. , Universitätsprofessor im Ruhestand und eine Berühmtheit auf dem Gebiet der Geronto-  Gelotologie, gedachte verdattert seiner Mutter, die sich nach ihrem Lachtod als Giftmischerin und unheilbare Kleptomanin herausgestellt hatte soeben, während
X. , Deutschlehrer, aus einem Rausch zu erwachen suchte, den er gerade zuvor mit dem Leiter des Oberschulamts in die feuchten Wege geleitet hatte.
Seine Augen gegen die kaum zu erahnende, noch nicht aufgegangene Sonne abschirmend, packt H. seinen Nachbarn bei den Ohren und entreißt ihm die Blindenbrille.
Als drinnen die Neonröhre aufflackert, stürzen sie hinein.
Sechs Uhr früh. Milchholen. 

Nichts als: Ein Traum

Zwischen rostigen Stacheldrahtenden führt der Blick auf eine aufgelassene Baustelle. Umgestürzte Schubkarren, halbvolle Betonmischer, vom Rost zerfressene Kipplaster zieren das Gelände. Teerpappe verdunkelt die Sicht, hängt lasch von verfallenen Koben herab, schlägt plitschnaß an Türrahmen ohne Mauereinfassung, die in die violette Luft ragen.

Unten auf dem Schotter zwischen allerlei leeren Büchsen, verwaschenen Papierfetzen und faulen Apfelresten kriechen zwei Küchenschaben, in ein angeregtes Gespräch vertieft: eine größere, schwarze, die offenbar den Ton angibt, und eine schmale, bräunliche, die einen respektvollen Abstand wahrt und stets beflissentlich etwas zurückbleibt.

Während sie das Terrain inspizieren oder sich auch bloß ein bißchen an der Luft ergehen, folgen ihnen mein Freund R. B. und ich. Da mir nicht klar ist, wieso ihnen unsere ungeteilte Aufmerksamkeit zukommt, frage ich R. danach. „Der Schwarze“, sagt R. , „ist der ehemalige Tiefbauminister und Hochstapler in Personalunion, bekannt für seine Lichtscheu - und der Schmalere ist sein Parteifreund und Staatssekretär; vor Wochen flitzten sie, angeblich auf der Flucht vor den Scheinwerfern, unermüdlich über die Bildschirme, du erinnerst dich vielleicht.“ „Soso“, sage ich, „und was treiben sie jetzt?“ „Sie sind gerade befördert worden und deutlich auf dem Weg nach oben.“ „Was sollten sie denn so lebhaft besprechen?“ „Das“, meint Freund R. , „dürfte wohl feststehen: sie beschließen, wie’s weitergehen soll.“ „Warum aber gerade solch unansehnliches und normalerweise auch sprachloses Ungeziefer?“ „Alles nur eine Frage der Technik und bereits optimal gelöst: die Bewegung ihrer Kauwerkzeuge wird mittels Computer in akustische Signale verwandelt, die weiterhin umstandslos in die Laute der menschlichen Sprache übertragen werden können, sobald und sooft sich das als nötig erweist. Was“, fährt R. fort, „wie du dir ja denken kannst, ziemlich selten der Fall ist - nur bei öffentlichen Auftritten sowie großen Empfängen. Ansonsten entscheiden sie die wichtigen Fragen eben unter sich, und ihre Beschlüsse gelangen alsbald über die zuständigen Foren auf dem kürzesten Weg zu uns, sofern sie uns mitbetreffen.“

Während dieser Erklärungen sind wir weiter hinter ihnen her gegangen, wovon die beiden keinerlei Notiz nehmen. Mittlerweile haben sie den Rückweg angetreten zu den zwei Geländewagen, die offensichtlich auf ihre Rückkehr warten. Eine Art Hühnersteige ist an der Fahrerkabine des einen Jeeps angelehnt, welche die beiden denn auch erklettern. Die Kabine ist vollkommen leer, kein Lenkrad, keine Sitze sind drin, geschweige denn ein Fahrer.

Vermutlich ferngesteuert verlassen die beiden Wagen das Gelände und lassen eine dünne, schwarz-bräunliche Staubwolke hinter sich, welche ihnen nachzieht und sich allmählich verliert.

Der König von Theben

Der Hohepriester, mein Begleiter, hatte diesmal Vorsicht für geboten gehalten und das Orakel zu Delphi zu Rate gezogen. Das, weil so allerlei seltsame Gerüchte über diesen Hof, zu dem wir uns aufgemacht hatten, in Umlauf waren: von Meuchelmorden unter den Thronfolgern bis zu den schändlichsten Jungfernschändungen. So taten wir gut daran, uns den Spruch, der uns mitgegeben worden war, zu Herzen zu nehmen, und der lautete: Der erste Satz, den der König an uns richten werde, werde eine hinterlistige und heimtückische Lüge sein.

Wir machten uns zu aller Anfang auf ein ziemlich pompöses und lautstarkes Zeremoniell gefaßt. In der Tat wurden wir unter fürchterlichen Posaunenstößen, Brandopfern und Bücklingen empfangen. Der aufgeschwemmte König lag inmitten der blutjungen gemästeten Hetären, von denen er, wie die Kunde ging, jede Nacht einer die Brustknospen abschneiden ließ, um sie genußvoll zu verspeisen.

Wie das Hofritual es für einen fremden Boten vorschrieb, stellte ich ihm meine erste Frage, und die war: „Who are you?“

Er hob sein von unzähligen Liebesnächten und den schweren Weinen verwüstetes Gesicht, reichte mir ein Riechstäbchen und sagte dies: „I am who I am.“

„No, you’re not“, sagte ich.


Die unveröffentlichten Texte

Der Redner

Der kleine Finger krümmt sich zusammen. Die ganze Hand fällt herunter. Der linke Fuß wird seitwärts- und zurückgestellt. Dabei gerät der Körper etwas aus dem Gleichgewicht und hängt schlaff über das Pult. Der rechte Ellbogen nimmt davon Abstand und wird rückwärts angewinkelt. Die Hand faßt an den Knoten des Schlipses und schiebt ihn aus der Mitte, unmittelbar unterhalb des Adamsapfels, leicht seitlich in eine Schieflage. Ein Räuspern wird verschluckt. Über den Rand gestülpte, etwas geöffnete Lippen geben dem Wasserglas seinen Inhalt wieder. Speichel rinnt in die Drüsen.

Der Redner zieht seine Worte zurück.

Beim Frisör


Schon als Kind waren Frisöre für mich Autoritäten, denen man sich nur in Ehrfurcht und mit einem gewissen Bangen näherte. „Ihr müßt euch mit der Nuller stutzen lassen!“ hieß es da, und das bedeutete: kahlscheren. Das war außerdem billiger und von dem Gesparten konnte man sich einen roten daumengroßen Hahn aus gebranntem Zucker zum Lutschen oder ein Speiseeis kaufen. Es brachte also Vorteile, auf den Frisör zu hören, das bekamen wir Kinder bald spitz. „Oder wollt ihr definitiv den totalen Scheitel?“ konnte er einen mit dröhnender Stimme anfahren. Der drohende Ton machte auf die verheerenden Folgen aufmerksam für den Fall, daß man eigene Irrwege beschritt, auf denen einen die Ratschläge nicht mehr erreichten, die er kostenlos erteilte. Man wäre also schlecht beraten, sich seinen wertvollen Empfehlungen und Hinweisen zu entziehen, das begriff ich damals auch.
Nun, da ich im Alter etwas vorgerückt bin und mein vielseitig entwickelter Scheitel  unübersehbar fortschreitet und bereits bedenkliche Ausmaße angenommen hat, holte ich mir - der Warnung des Experten aus der Kindheit eingedenk - bei einem bekannten Frisör der Stadt, einer Koryphäe auf dem Gebiet der Kosmetologie, Rat, wie dem zu begegnen sei.
 „Die wirksamsten therapeutischen Maßnahmen zielen ausnahmslos auf eine Förderung der Durchblutung der Kopfhaut“, dozierte dieser, „es ist daher zweckdienlich, in regelmäßigen Zeitabständen auf dem Kopf zu stehen - in dieser Stellung ist der Blutandrang in den oberen Regionen besonders groß.“ Derartig belehrt, bedankte und verabschiedete ich mich. Seither befolge ich unbeirrt diesen Rat; zumal ich schon beim erstenmal hinter den enormen Vorteil, den diese Position bietet, gekommen bin, nämlich: die Umgebung aus dem einzig angemessenen Blickwinkel zu betrachten.

Happy-End. 
(Kurzes Drehbuch nach einer Künstlerbiografie)

Ihre aufgeworfenen, effektvoll nachgezogenen Lippen lösen sich leidenschaftlich von seinen. 
Unter den zurückzischenden Blicken seines Impressarios steigt er die Stufen von der Bühne rücklings herunter. Die Tasten schlagen ihm die Finger weg und er steht mit erhobenen Armen umständlich vom Klavier auf. Vor dem letzten Anschlag tobt der Saal Beifall. Noch bevor der einsetzt, gehen alle hinaus, nachdem sie höchst behutsam von den samtüberzogenen Sesseln aufgestanden sind.
SCHNITT  
Bei dem großen Empfang, den der Maestro, sein Nachahmer, Nachbild und Bewunderer, ihm zu Ehren gibt, ziehen beide ihre rechte Hand unter den erwartungsleeren Blicken der Runde entschlossen zurück. Die Koryphäen der Kulturszene lassen aus gespitzten Mündern Champagner in die Kelche und Schalen fließen. Als er zu einer Dankrede anhebt, verschluckt er seine emotionsgeladenen Phrasen und der anfängliche Stirnschweiß tritt ihm in die Poren. Dem mephistophelischen Widersacher fährt auf dem gekachelten Abort die Pisse ins Glied, während sein Gesicht unendliche Erleichterung ausdrückt.
SCHNITT
Siebzehnjährig rennt er in einem Wahnsinnstempo um einen runden Tisch rückwärts vor einer etwa gleichaltrigen Blondine her, die nach jeder Runde die Zunge mehr und mehr zurücksteckt und zuletzt ganz ruhig atmet. Fast unmerklich bewegen sich ihre langen Finger von seinem Nacken über seine Schläfen zu ihren Oberschenkeln, wo sie hängen bleiben.
SCHNITT
Die bebrillte Klavierlehrerin bricht in einen von Neid nicht ganz freien Schrei  begeisterten Entzückens aus, den sie alsbald hinunterschluckt. Als Geräuschkulisse dient die Mondscheinsonate, vom letzten bis zum ersten Ton tadellos, ja virtuos ausgeführt. Im weiteren Verlauf verliert die Lehrerin ihre mühsam erworbene Geläufigkeit total. Er seinerseits sieht zum ersten Mal einen Konzertflügel und eine diebische Freude stiehlt sich in seine fein geschnittenen, fast mädchenhaft zu nennenden Züge.
SCHNITT
Völlig erschöpft, das Tuch bei perlendem Schweiß in die Kitteltasche zurückstopfend, schlurft der Operateur rückwärts in den Kreißsaal. Am OP-Tisch angelangt, reicht ihm die Schwester den Forzeps. Die Zange öffnet sich und gibt ihn frei, das werdende Wunderkind rutscht nach einem misstönenden, rasch erstickten Aufschrei in die weiche, warme Dunkelheit. Die Wehen gehen zurück und hören endlich ganz auf.

Neue Proportionen

1. Frühmorgens heulen und schrillen jeweils zwei Dutzend Fabriksirenen und Wecker gleichzeitig und schrecken einen Arbeiter hoch, der sofort seinen Morgenverrichtungen nachgeht.

2. In einer Kunstausstellung gehen Ölgemälde, Aquarelle und Aktskulpturen um und besichtigen den einzigen Besucher, der mit seidenen Schnüren an einem Fleischerladen angebracht ist.

3. Vom Schwarzmarkt führen neun Schleichhändler sieben Dutzend Polizisten in Handschellen in die bereitstehenden Luxuslimousinen ab.

4. ein Menschenverächter unter den Kannibalen sieht sich nach kurzer Fastenzeit mit den unverhältnismäßigen Nachteilen dieser Einstellung konfrontiert.

5. Psychiatern in Zwangsjacken werden von verrückt spielenden Elektronengehirnen ihre kaum losgewordenen Zwangsvorstellung wieder eingetrichtert.

6. Ein reißendes Rudel zottiger Schäferhunde nagt an einem blanken, sonnengebleichten Knochen und wird währenddessen von einem schwarzen Schaf scharf bewacht.

7. Während ein Archäologe der Spitzenklasse mit gutem Gewissen und geübtem Blick Hunderte von Scherben und beschrifteten Tontäfelchen eingräbt und sämtliche Spuren seines virtuell aufsehenerregenden Fundes sorgfältig tilgt, spricht sein einziger ernstzunehmender Widersacher auf mehreren interkontinentalen Videokonferenzen mit belegter Zunge von der Freilegung phänomenaler Grabstätten an eben jener Stelle.

8. Lukullisch lächelnd, geleiten die Gäste den exquisiten Saalchef unter augenzwinkernden Bücklingen zu festgesetzter Stunde zur festlich geschmückten Tafel, an der die glasierten Kellner um den Zuckerbäcker, der darauf thront, blutige Witze reißen.

9. Wie die neuesten Ermittlungen des statistischen Bundesamts in Wiesbaden ergeben haben, verhält sich die Geburtenziffer eines bestimmten Gebiets in einem gegebenen Zeitabschnitt direkt proportional zur Anzahl der statistisch erfaßten Ehebrüche.



Die Umdarmung 
(Geschichte einer raschen Eingewöhnung)


Wer hätte schon gedacht, was das für ein Ende nimmt. Am Anfang schaut eine Laufbahn immer besser aus. Und rosig ist meine ja geworden. Aber schön der Reihe nach...
Nach wiederholten Rügen und Verweisen seitens meiner Chefin war mir der ganze Kram bald zuwider und meine Widerstandskraft aufgebraucht. Ich nahm mir allen Ernstes vor, meine Intelligenz spielen zu lassen, d. h. mich vollkommen zu integrieren.
Es begann damit, daß ich zwei meiner besten Freundinnen sitzenließ, sie bald darauf auch verleumdete. Da ich auf einmal aufrecht daherschlich, und zwar unter den wohlwollenden Blicken meiner Vorgesetzten, erkannten meine Freunde mich nicht mehr; was zu nichts anderem führen konnte, als daß ich mich von ihnen lossagte und danach hinter ihrem Rücken zu stänkern anfing; weil ihnen, was sie so vernahmen, unglaublich vorkam und sie sich nach meiner Haltung erkundigten bei mir, sagte ich ihnen, daß sei eben meine neuangenommene und als solche hinzunehmen; was natürlich zur Folge hatte, daß ich mich in einander widersprechenden Lügengespinsten verstrickte und sie als Freunde verlor; worauf ich mir sagte: „Fort mit Schaden!“ und mich allmählich selbst von der direkten Schädlichkeit meiner bis dahin gepflegten Beziehungen überzeugte.
Ich begann Konzerte und Theateraufführungen zu meiden, gewann dafür aber eine Menge Bekanntschaften unter den Frisören und Metzgern. Unter ihnen entspann sich in Kürze eine regelrechte Rivalität, wer mich am unmißverständlichsten zu bedienen verstünde. Da mir Schmeichelreden sehr bald geläufig wurden, brauchten mich diese derartig auf, daß ich nicht nur meine Eltern vernachlässigte, die ihren Augen und Ohren nicht mehr trauten, wenn ich sie besuchte, sondern auch Skilauf und Lektüre.
Als ich daraufhin stark Fett anzusetzen begann, zumal an Bauch und Oberschenkeln, stieg mein Prestige und ich wurde von allen gewichtigen Leuten der Stadt deutlich zur Kenntnis genommen. Mein Gehalt wurde von Monat zu Monat aufgebessert und auch intellektuell wurde ich immer höher eingestuft. Die Wohnung wurde mir zu klein und ich war bald in der Lage, ein Penthouse im Altteil der Stadt zu beziehen.
Besuche empfing ich reserviert, die meisten wies ich höflich, aber bestimmt ab. Vorgesetzte, gleich welcher Rangordnung, ließ ich grundsätzlich ein; zumal sie mich dann ebenfalls einließen. Fiel es mir auch schwer, ihnen unter die Haut und tiefer zu kriechen, hatte ich mittlerweile immerhin schon einige Übung darin; so daß ich Skrupel jedwelcher Art fallenließ und zu konkreten Maßnahmen überging.
War die Mühsal, sich dort einzuzwängen, der ätzende Geruch sowie die Angst, das Falsche zu tun, am Anfang fast unüberwindlich, fing ich doch sehr bald an, regelrecht Geschmack an der Sache zu finden, von Mal zu Mal mehr. Ich sei, versicherte mir zu meinem unverhohlenen Stolz der zuletzt mit offenen Armen und geneigtem Haupt empfangene Besuch, auf dem besten Wege, es herauszubekommen; eine vielversprechende junge Hoffnung, sozusagen; mit etwas mehr Eindringlichkeit, die mir allerdings noch abgehe, schaffe ich es gewiß zur Zufriedenstellung aller. 

***

Hellmut Seiler: Beim Frisör, in: Neue Banater Zeitung, 2. März 1983, S. 7 
Illustration: 
Tibi Jaeger: Beim Frisör








Erstellt 14. 2. 2023 - aktualisiert 18. 2. 2023, 21: 56 h