Mainz. Der Schriftsteller und Publizist Franz Thomas Schleich soll die deutsche Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller in den 1980er Jahren für den rumänischen Geheimdienst Securitate unter dem Decknamen „Voicu“ bespitzelt haben. Einer seiner Berichte steht am Anfang der Opferakte von Herta Müller und war nach Ansicht von Experten der Anlass für die Securitate, die rumäniendeutsche Schriftstellerin ins Visier zu nehmen. Das berichtet das ARD-Politikmagazin REPORT MAINZ heute Abend um 21.45 Uhr im Ersten unter Berufung auf Aktenbelege, Zeitzeugenberichte, ein Schriftgutachten und die Einschätzung des Rumänien-Experten der Birthler-Behörde.
Herta Müller bestätigt die Recherchen von REPORT MAINZ. Wörtlich erklärt sie im Interview: „Ja, Franz Schleich steckt dahinter.“ Schleich habe als Spitzel „Voicu“ für die Securitate einen Bericht verfasst, in dem er ihrem ersten veröffentlichten Text, dem Roman „Niederungen“, staatsfeindliche Tendenzen vorgeworfen habe. Herta Müller vermutet, möglicherweise seien „Neidkomplexe“ im Spiel gewesen. Georg Herbstritt, Rumänien-Experte der Birthler-Behörde, erklärt gegenüber REPORT MAINZ zum „Voicu“-Bericht: „Das ist für den Geheimdienst, die Führungsoffiziere, der Anlass gewesen, eine Akte über Herta Müller zu eröffnen und die Verfolgung einzuleiten.“
Herta Müllers früherer Ehemann Richard Wagner, sowie die rumäniendeutschen Schriftsteller Horst Samson und William Totok, die damals zum Literaturkreis um Herta Müller gehörten, erklären gegenüber REPORT MAINZ, sie hätten „Voicu“ zweifelsfrei als Franz Thomas Schleich identifiziert. Ein Schriftgutachten im Auftrag von REPORT MAINZ untermauert diese Aussagen: Darin heißt es, die untersuchten handschriftlichen Securitate-Berichte unter dem Decknamen „Voicu“ stammten „mit mindestens hoher Wahrscheinlichkeit“ von Franz Thomas Schleich.
Historiker Herbstritt erklärt im Interview gegenüber REPORT MAINZ: „Wenn man die Akten der Betroffenen zusammenlegt, wenn man die Erinnerungen der Betroffenen mit heranzieht, dann gibt es eigentlich keinen Zweifel, auf wen es hinausläuft.“ Die Aussagen Herta Müllers und der anderen Zeitzeugen seien „völlig plausibel“.
Franz Thomas Schleich wollte sich auf Anfrage von REPORT MAINZ zu den konkreten Vorwürfen nicht äußern. In einer E-Mail schrieb er lediglich, es sei bekannt, dass der rumänische Geheimdienst auch Akten manipuliert habe: „Diesen Verdacht einer üblen, mehrfachen Manipulation habe ich auch in meinem Fall.“ Wissenschaftler und Zeitzeugen halten diesen Einwand gegenüber REPORT MAINZ jedoch angesichts der zahlreichen handschriftlichen Berichte und anderer Indizien nicht für stichhaltig.
Franz Thomas Schleich zählte damals zum Bekanntenkreis von Herta Müller in Rumänien. Er veröffentlichte Gedichtbände und arbeitete als Journalist für die „Neue Banater Zeitung“. Anfang der 1980er Jahre stellte er einen Ausreiseantrag und machte im Westen mit regimekritischen Artikeln im „Stern“ auf sich aufmerksam. Auf Vermittlung des damaligen Bundesaußenministers Genscher durfte er schließlich in die Bundesrepublik ausreisen, wo er sich in Presseartikeln und Fernsehinterviews als Opfer des Regimes darstellte. Er lebt bis heute in der Nähe von Ludwigshafen, wo er Karriere in der Kommunikationsabteilung eines großen Linoleumkonzerns machte.
Nach Angaben des Zeitzeugen William Totok und des Historikers Georg Herbstritt gegenüber REPORT MAINZ suchte der frühere Spitzel „Voicu“ sogar noch einige Jahre nach seiner Ausreise in die Bundesrepublik erneut den Kontakt zur Securitate. Wörtlich erklärt Rumänien-Experte Herbstritt im Interview: „Wir wissen aus den Akten, dass er noch mal nach Rumänien zurückgekehrt ist (...), und in Rumänien in der Zeit, in der er dann zu Besuch dort war, noch mal berichtet hat für die Securitate.“ „Voicu“ sei ein „sehr eifriger Spitzel gewesen“, der bereitwillig Belastendes berichtet habe.
Im Interview mit REPORT MAINZ erklärt Herta Müller, die Lektüre ihrer Opfer-Akte des Geheimdienstes belaste sie: „Ich habe immer viele Jahre gedacht, im Freundeskreis hätte es keine Spitzel gegeben. Ich habe jetzt gemerkt, dass das nicht so ist.“ Es sei nicht leicht, mit dem Verrat enger Freunde und Bekannter umzugehen: „Es frisst einen innerlich auf, und man dreht die Dinge im Kopf hunderte Male hin und her. (...) Das hält einen immer gefangen und es zermürbt auch.“ Sie hoffe, dass nun angesichts der Aktenbelege eine Diskussion in Gang komme und Securitate-Spitzel wie „Voicu“ sich erklären und gegebenenfalls auch juristisch verantworten müssten.
Herta Müller fordert, dass gegen in Deutschland lebende Securitate-Spitzel ermittelt wird. Es gebe nicht nur ein Defizit bei der Strafverfolgung, es sei vielmehr bisher gar nichts geschehen. „Deutschland ist ein gemütliches Reservat für Securitate-Spitzel“, kritisiert die Literaturnobelpreisträgerin. Müller spricht sich gegenüber REPORT MAINZ für eine Aufarbeitung der Securitate-Vergangenheit nach dem Vorbild des Umgangs mit den früheren Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) des DDR-Staatssicherheitsdienstes aus. Die Securitate sei auch ein deutsches Problem: „Sowohl Opfer wie auch Täter sind jetzt hier und deutsche Staatsbürger.“ Nach Schätzungen von Wissenschaftlern leben zwischen 500 und 2.000 frühere Spitzel des rumänischen Geheimdienstes in Deutschland.
Stand: 11.1.2010, 13.57 Uhr
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