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Montag, Juni 15, 2015
Mineriada
Unter der Schlagzeile „Bukarest vor
25 Jahren“ sind in den letzten Tagen - in der rumänischen und der deutschen
Presse - mehrere Beiträge erschienen, in denen an den Einsatz der Bergarbeiter
(13.-15. Juni 1990) gegen die Demonstranten auf dem Bukarester
Universitätsplatz erinnert wird. Aus fast all diesen Beiträgen wurden einige
historisch relevante Passagen ausgeblendet und ein ziemlich einseitiges Bild im
Sinne postkommunistischer Geschichtsklitterung entworfen und der Leserschaft
vorgesetzt. Bezeichnend für diese Herangehensweise ist die Darstellung einer
mit der Aura eines Helden ausgestatteten zwielichtigen Figur jener Tage: Viorel
Ene. Im Jahr 2010 beispielsweise war Ene in seiner Eigenschaft als Vorsitzender
des Verbandes der Opfer des Bergarbeitereinsatzes eine der Schlüsselfiguren,
die eine vor der israelischen und amerikanischen Botschaft in Bukarest
organisierten Demonstrationen mit antisemitischen und ultranationalistischen
Stellungnahmen publizistisch begleitet hatte. Seine Beiträge wurden damals u.a.
auch von der rechtsextremen Internetplattform AlterMedia verbreitet. (Hier Auszüge aus den Ansprachen von Mihai Rapcea und Viorel Ene, veröffentlicht auf Youtube am 3.8. 2010.
Anm. 25.4. 2024: Die Aufzeichnungen wurden inzwischen gelöscht.)
Hier zwei Beiträge über die
Marathondemonstration auf dem Bukarester Universitätsplatz im Frühjahr 1990.
Die Beiträge sind einen Tag vor den ersten freien Wahlen (20. Mai 1990) nach
dem Sturz des kommunistischen Regimes in der taz erschienen („Lieber tot als Kommunist” und Guter Nationalismus). Historisch
gesehen, ist diese Demonstration nicht nur die Geburtsstunde der
postkommunistischen Zivilgesellschaft, sondern sie beinhaltet auch die
nationalistische Erbsünde der postkommunistischen Gesellschaft rumänischer
Prägung schlechthin.
15. Juni 2015
***
„Lieber tot als Kommunist!“
Religiöse Überschwenglichkeit und
dumpfer Nationalismus bei den Demonstranten auf dem Universitätsplatz in
Bukarest/Täglich treten neue Redner und Liedermacher auf dem Balkon der
Universität auf/
„Nieder mit dem Atheismus!“, brüllt
eine heisere Stimme vom Balkon der Bukarester Universität. Tausende wiederholen
den Satz und knien nieder. Wer stehen bleibt, wird sofort als Kommunist oder
als Anhänger der Front zur nationalen Rettung beschimpft - zu
Handgreiflichkeiten kommt es jedoch nicht. Die hier versammelten Bukarester
sind Gegner der Front, „Antikommunisten“, wie sie sich selbst bezeichnen, oder „Golans“,
Rowdies, wie sie Präsident Iliescu kürzlich abqualifiziert hatte. Stolz haben
sie diesen Begriff zum Ehrentitel umfunktioniert.
Alle sind freundlich, immer bereit,
Auskunft über die Gefährlichkeit des Gegners zu geben, den sie überall
vermuten, auch in den eigenen Reihen. Die Securitate, diese schreckliche
Hinterlassenschaft des Ceausescu-Regimes, hat in den Köpfen der Leute tiefe
Spuren zurückgelassen. Das Mißtrauen sitzt tief. Am größten ist die Angst diese
Leute vor einem erneuten Machtantritt der Front Iliescus, die als
neokommunistische Partei verschrien wird.
Der Kampf gegen Iliescu, dessen
populistisches Charisma die Demonstranten auf dem Bukarester Universitätsplatz
ebenso kalt läßt wie die auf dem Temeswarer Opernplatz, wird in schrillen Tönen
ausgefochten. Die religiöse Überschwenglichkeit, kombiniert mit dumpfen
nationalen Sprüchen, zeugt von jahrzehntelang unterdrückten Gefühlen, die jetzt
ins Kochen geraten. Selbst die mit den Gesetzen der Vernunft vertrauten
Mathematikstudenten geraten in Ekstase. Die Freude darüber, die Staatsmacht
provozieren zu können, äußert sich in Volksfeststimmung. Jeder kennt die Texte
der immer wieder angestimmten Lieder: „Lieber tot als Kommunist.“
Ein junger Schauspieler empört sich
in einer glänzenden Rede über grobe Manipulation und Verunglimpfung. Vor
einigen Tagen hatten Unbekannte Fotos unter den Demonstranten verteilt, auf
denen er in der Uniform der faschistischen Legionäre abgebildet war. Eine
Zeitung der „Front“ veröffentlichte prompt einen Artikel, in dem er als
Legionär diffamiert wurde. Doch die Fotos stammten aus einem Film, in dem er
die Rolle eines Legionärs gespielt hatte. „Nieder mit dem Kommunismus, nieder
mit dem Faschismus!“, schließt er seine Ansprache. „Nieder mit dem Kommunismus,
nieder mit dem Faschismus!“, antwortet die Menge.
Ungestört verkauft ein fliegender
Händler an einer Straßenecke die neue Zeitung 'Natiunea' (Die Nation). Auf dem
Titelblatt prangt der frühere rumänische Diktator Antonescu, der sich als
treuer Verbündeter Hitlers am Überfall auf die Sowjetunion beteiligt hatte.
Antonescu sei ein Patriot, ein genialer Stratege und großer Rumäne gewesen,
belehrt das Blatt seine Leser. Dieser Staatsmann habe nur die von der UdSSR
annektierten östlichen Gebiete Rumäniens, Bessarabien und die Nordbukowina, dem
größten Verbrecher aller Zeiten namens Stalin entreißen und dem Vaterland
wieder einverleiben wollen. Daß die rumänischen Truppen Odessa besetzt hatten
und bis nach Stalingrad vorgestoßen waren, verschweigt die Zeitung.
Herausgegeben wird sie von dem Millionär Iosif Constantin Dragan, der aus
Rumänien stammt und in Italien lebt. Chefredakteur Artur Silvestri ist als
eifriger Verfechter des Ceausescu-Nationalismus bekanntgeworden.
In der 'Nation' wird die
nationalchauvinistische Gruppe „Vatra Romaneasca“ als „wahre rumänische
Organisation“ beschrieben, die jeder gute Rumäne unterstützen müsse. Derlei
hatte bisher nur die Republikanische Partei verkündet, die mit der „Vatra
Romaneasca“ ein Koalitionsabkommen abgeschlossen hat und unter der Bezeichnung „Allianz
für die Einheit der Rumänen“ an den Wahlen teilnimmt.
Um die Gunst der „Allianz“ buhlt
allerdings auch die „Front zur nationalen Rettung“ recht unverhohlen. Auch die
Demonstranten, die seit mehr als drei Wochen auf dem Bukarester
Universitätsplatz einen antitotalitären Marathonlauf veranstalten, schließen
eine Regierungskoalition zwischen „Front“ und „Allianz“ nach einem Wahlsieg von
Iliescus Front nicht mehr aus. Überall sehen sie das wiederauferstandene
Gespenst des Kommunismus, dem sie das Bekenntnis zum orthodoxen Christentum
entgegensetzen. Und das Bekenntnis zur Einheit der Nation, das die Rumänen in der
sowjetischen Republik Moldavien miteinschließt. Die Moldavier ihrerseits lassen
ihrem Unmut über den Wahlkampf von Iliescus Front in Solidaritätsadressen und
Appellen an die Demonstranten freien Lauf.
Auf dem Balkon der Bukarester Uni
treten täglich Dutzende von Rednern und Liedermachern auf. Als Redner melden
sich auch solche zu Wort, die früher Ceausescu Lobeshymnen gewidmet haben und
sich nun offen als Vorkämpfer der rumänischen Orthodoxie präsentieren. Einer
davon ist Ion Alexandru, gegenwärtig Vizevorsitzender der Zaranisten
(Bauernpartei). „Ein Volk, das nicht mehr beten kann, wird aus der Geschichte
verschwinden“, schleudert er den Versammelten entgegen. „Wir sind Rumänen, und
wir werden ewig diesen Boden beherrschen“, singt eine Frau vom Balkon. Alle
stimmen mit ein. „Victorie!“, „Sieg!“, brüllt ein anderer. „Es lebe die Moldau,
die Walachei und Siebenbürgen!“, skandiert die Menge. Und wieder: „Nieder mit
dem Kommunismus, nieder mit der Front, nieder mit Iliescu!“
William Totok, Bukarest
19.5.1990 taz Nr. 3111 158 Zeilen,
william totok S. 3
*
Guter Nationalismus
Der Bukarester Studentenführer Sorin
Dragan, eine Gallionsfigur der rumänischen Opposition und Direktor der
Studentenzeitung 'Glasul', ist überzeugt, daß der Nationalismus keine negative
Erscheinung ist I N T E R V I E W
taz: In der letzten Ausgabe ihrer Zeitung erschien eine Karikatur eines
ungarischen Reiters der ungarische Fibeln nach Bessarabien bringt. Welchen Sinn
macht das?
Sorin Dragan: Es handelt sich um eine
Stellungnahme gegen die ungarische Regierung. Die ungarische Regierung hat
Lehrbücher für die ungarische Minderheit in Siebenbürgen eingeführt und damit
die separatistischen Forderungen der Rumänienungarn unterstützt. Dabei ging es
um die umstrittene „Geschichte Siebenbürgens“.
Was halten sie von der „Vatra Romaneasca“?
Ich glaube , daß diese nationale
Organisation der Rumänen, vor allem der siebenbürgischen Rumänen, sehr wichtig
ist. Ich bin prinzipiell ein Verfechter des nationalen Gedankens - nicht nur
aus rumänischer Perspektive.
Halten sie denn dann die Forderung der Rumänienungarn nach einer
ungarnsprachigen medizinischen Fakultät für berechtigt?
Ehrlich gesagt, nein. Es scheint doch
so zu sein, daß die Ungarn sich von den Rumänen separieren wollen, und nicht,
wie oft behauptet, von uns ausgegrenzt werden.
Gibt es denn keinen rumänischen Nationalismus?
Doch, natürlich - aber keinen mit
negativen Vorzeichen. Ich bin der Überzeugung, daß der Nationalismus keine
negative Erscheinung ist, sondern die Werte des Volkes herausstellt.
Es gibt heute viele rumänische Intellektuelle, die als einzige
Voraussetzung für die Entwicklung der Demokratie und eine europäische
Integration Rumäniens das Anknüpfen an die Tradition der 30er Jahre betrachten.
Ich teile diese Auffassung.
Gab es zu der Zeit nicht vielmehr eine Entwicklung zum Faschismus mit
dem damaligen populären Politiker und Philosophen Nae Ionescu an der Spitze?
Kategorisch nein. Ionescu war ein
glänzender Verfechter nationalistischer Ideen, die ich nicht als faschistisch
bezeichnen würde.
Wie erklären Sie sich dann den Holocaust an den rumänischen Juden und
Zigeunern während des II. Weltkrieges?
In unseren Geschichtsbüchern stand
darüber nichts. Mir sind gewisse Exzesse rechtsradikaler rumänischer
Organisationen bekannt - ich kenne jedoch keine Details.
Wäre es dann nicht an der Zeit, jetzt eine Diskussion über den
rumänischen Faschismus und den Stalinismus zu führen?
Selbstverständlich, ja. Das
Ceausescu-Phänomen ist fast ausdiskutiert. Jetzt sollte man darüber reden, wie
der rumänischen Nation nach dem II. Weltkrieg der Kommunismus aufgezwungen
wurde.
Interview: William Totok
19.5.1990 taz Nr. 3111 79 Zeilen, William
Totok S. 3
*
Guter Nationalismus
Der Bukarester Studentenführer Sorin Dragan, eine Gallionsfigur der rumänischen Opposition und Direktor der Studentenzeitung ‚Glasul’, ist überzeugt, daß der Nationalismus keine negative Erscheinung ist I N T E R V I E W
19.5.1990 taz 79 Zeilen, William Totok S. 3
„Lieber tot als Kommunist!“
Religiöse Überschwenglichkeit und dumpfer Nationalismus bei den Demonstranten auf dem Universitätsplatz in Bukarest/Täglich treten neue Redner und Liedermacher auf dem Balkon der Universität auf/
19.5.1990 taz 158 Zeilen, William Totok S. 3
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Aktualisiert / actualizat: 25. 4. 2024